Selbstbestimmt im Homeoffice?

Aufgrund der Pandemie arbeiten derzeit viele Beschäftige in flexibiliserten Arbeitsmodellen und im Homeoffice – in welchem Ausmaß tragen die neuen Arbeitsformen dazu bei, Arbeit humaner, i.S. von selbstbestimmter zu gestalten? Und würde der Diskurs rund um diese Frage davon profitieren, wenn das Wort Selbstbestimmung mit Bedeutung gefüllt und aus dem Arsenal von Selbstverständlichkeiten einer liberalistierten Arbeitswelt hervor gehoben werden würde? Und welche Bedeutung könnte neue Orientierung zu dieser Frage anbieten?

Obwohl Autonomie (griech. Αύτουόμοϛ, αύτουοµϊα; lat. autonomia, Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung, Eigengesetzlichkeit) ein wesentlicher Schlüsselbegriff innerhalb humanistisch orientierter arbeits- und organisationspsychologischer Theorien ist und den normativen Hintergrund einiger Theorien zur Gestaltung menschengerechter Arbeit bildet, besteht insbesondere hier eine „terminologische Vagheit“ (Sichler, 2006, S.89): So wird Autonomie sowohl mit Beteiligungsrechten, als auch mit erweiterten Handlungs- und Interaktionsspielräumen gleichgesetzt. Andere bemessen Automie daran, ob die Mitarbeiter ihre Arbeitsziele selbst festlegen und sich dafür verantwortlich fühlen, dass diese erreicht werden…
Flexible Arbeitszeiten, die Betonung der Eigenverantwortlichkeit und erweiterte Entscheidungsspielräume gestehen Mitarbeitern die Kompetenz zu, aus der Vielfalt möglicher Handlungen eigenständig zu wählen, diese selbst zu koordinieren und so in den zuvor fremdbestimmten Verlauf der Arbeitsausführung eingreifen zu können… Doch wie lässt sich nach diesem Verständnis Selbstbestimmung von Selbstkontrolle und Selbststeuerung abgrenzen? Steht mit der vernachlässigten Begriffsdifferenzierung nicht auch die Tragweite der darauf aufbauenden Konzepte in Frage? Und woran bemessen wir dann, ob und in welcher Weise die Theoriegebilde den veränderten Arbeitsverhältnissen über die Zeit gerecht werden können? Vor dem Hintergrund der vielfältigen Definitionen im Kontext der Arbeits- und Organisationspsychologie soll also hier dem Wort nochmals auf den Zahn gefühlt werden …

Kambartel (1989) begreift Selbstbestimmung auf drei Ebenen und benennt dabei die Freiheit von der Natur, die Freiheit von Herrschaft sowie Freiheit von sich selbst als notwendige Bedingung von Autonomie.
Als Freiheit von der Natur versteht er die Möglichkeit des Einzelnen dem zufallsbedingten Geschehen der Welt selbst seinen Lauf vorzuschreiben. Freiheit von Herrschaft meint hingegen, Ziele weitgehend unbeeinflusst durch das Handeln anderer zu verfolgen. Drittens – und dies findet innerhalb der Arbeits- und Organisationspsychologie bislang weniger Beachtung – gilt eine Person nach Kambartel als selbstbestimmt, wenn sie frei von sich selbst ist. In Anlehnung an Kant meint dies die Freiheit, einen Standpunkt gegenüber eigenen Wünschen und Motiven auszubilden. Diese höchste Stufe des hier formulierten Autonomieverständnisses verweist auf selbstreflexive Prozesse und die Möglichkeit, „sich nicht nur gegenüber der äußeren Natur und gegenüber anderen Personen, sondern auch zu sich selbst verhalten zu können.“ (Sichler, 2006, S. 12).

Sollte die Frage nach Autonomie im Kontext neuer Arbeit also nicht vielmehr darauf gerichtet werden, inwiefern sich Mitarbeiter in der Auseinandersetzung mit ihrer Tätigkeit auch mit sich selbst und der Entwicklung der eigenen berufsbezogenen Identität auseinandersetzten können?

Auch wenn diese Reflexionsschleifen im Rahmen von Mitarbeitergesprächen, Workshops und Coaching, u.a. ermöglicht und begleitet werden können, bleiben doch Fragen offen, inwiefern Selbstbestimmung im Kontext flexibilisierter Arbeit möglich ist…

So stellt sich die Frage, ob umgekrempelte Organigramme, eingerissene Bürowände und agile Projektarbeiten notwendig oder gar hinreichend sind, um das Arbeitshandeln eines Teams oder eines Mitarbeiters als frei von Herrschaft zu bezeichnen. Sofern die Anordnungen hierarchisch übergeordneter Führungskräfte durch die Autorität der Zahlen ersetzt werden, müsste man wohl schließen, dass hier Herrschaft eher verschoben, statt aufgelöst wird.
Und geht die Abkehr des hierarchisch geprägten „Kommandosystems“ nicht viel eher damit einher, dass sich die Mitarbeiter selbst dazu anspornen, die unternehmerischen Ziele zu erreichen? Welche Freiheiten bringt das mit sich? Und welche Interessenskonflikte gehen damit einher?

(c) Kathrin Lewis https://www.instagram.com/maple_lewis/

Glißmann (2001) bringt die Herausforderung an die Selbstbestimmung der Beschäftigten, die mit flexiblen Arbeitsformen einhergehen können, folgendermaßen auf den Punkt: nach ihm sehen sich die Mitarbeiter im Konflikt, „einerseits ‚nach Hause gehen zu wollen [d.h. im Homeoffice die Arbeit niederzulegen], da doch [die] Arbeitszeit um ist und andererseits weiterarbeiten zu wollen, weil das Ergebnis noch nicht erreicht ist.‘“ (S. 11).

Eine unmittelbare Lösung des Konfliktes, des Hin- und Hergerissen Sein und des unruhigen, spannungsvollen Hin- und Herpendelns könnte darin bestehen, sich dafür zu entscheiden, sich im Sinne des zu erreichenden Ziels zu verausgaben. Dies scheint wahrscheinlich und nachvollziehbar, wenn Mitarbeiter allein für Arbeitsergebnisse anerkannt werden und Arbeitsbemühungen im Homeoffice nicht gesehen werden (können). Zusätzlich sehen sich die Beschäftigten einer anderen Form der Belastung ausgesetzt: sie setzen sich nicht nur überdurchschnittlich für ihre Arbeit ein, sondern finden sich zudem in Selbstvorwürfen, Selbstzweifel und Abwertung der eigenen Regulationsfähigkeiten gefangen, wenn es Ihnen („schon wieder einmal!“) nicht gelungen ist, die eigenen Ideen (oder die der Familie) an eine ausbalancierte Lebensführung umzusetzen.

Doch wie kommt man nun aus dieser doppelten Belastung heraus? Wäre es nicht eine mögliche, ver-rückte Lösung, in der Maske einer „Burnout“-Problematik eine Neuausrichtung des eigenen Arbeitshandelns einzufordern…?

Aus meiner Sicht ist nun die geeignete Zeit, sich im Zuge der gemachten und flächendeckenden Erfahrungen mit der flexibilisierten Arbeit diesen und weiteren Fragen zu widmen, sich mit den – divergierenden – Anliegen der Beschäftigten auseinanderzusetzen und den Beschäftigten hilfreiche, selbstreflexive Methoden zur Selbstverortung und -bestimmung an die Hand zu geben, um sie zu eigenen Lösungen im Umgang mit den Herausforderungen im Homeoffice zu führen – mit dem Ziel Erschöpfungserleben vorzubeugen…


Elena Linden, 26.05.2020

Brehm, J. W., & Self, E. A. (1989). The intensity of motivation. Annual review of psychology40, 109-131.

Brinkmann, U., & Dörre, K. (2006). Die neue Unternehmerkultur — Zum Leitbild des „Intrapreneurs“ und seinen Implikationen.  Endspiel des Kooperativen Kapitalismus? (136-168). Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften.

Brinkmann, U. (2011). Die unsichtbare Faust des Marktes: Betriebliche Kontrolle und Koordina      tion im   Finanzmarktkapitalismus. Berlin: Sigma.

Glißmann, W., & Peters, K. (2001). Mehr Druck durch mehr Freiheit. Die neue Autonomie in der Arbeit und ihre paradoxen Folgen. Hamburg: VSA.

Kambartel, F. (1989). Autonomie, mit Kant betrachtet. Zu den Grundlagen von Handlungstheorie und Moralphilosophie. In: Philosophie der humanen Welt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 11-132.

Linden, E., Fischer, H. R., Walther, E. (2016). Wozu Burnout? Das ausgebrannte Sein als ambivalente Lösung von Ambivalenz. Familiendynamik, 41(3), 232-241.

Peters, K. (2011). Indirekte Steuerung und interessierte Selbstgefährdung. Neue Herausforderungen für die betriebliche Gesundheitspolitik. BGM-Fachtagung des ZWW: „Die erschöpfte Organisation“.

Sauer, D. (2006). Arbeit im Übergang. Gesellschaftliche Produktivkraft zwischen Zerstörung und    Entfaltung. Dunkel, Wolfgang/Sauer, Dieter (Hg.). Von der Allgegenwart der verschwindenden Arbeit, Neue Herausforderungen für die Arbeitsforschung, Berlin, 241-257.

Sichler, R. (2006). Autonomie in der Arbeitswelt . Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert